1945-00-00 - Schicksal einer Flüchtlingsfamilie
ID 1001375
Piwigo ID 1645484895
Titel Schicksal einer Flüchtlingsfamilie
Datum 1945-00-00
LFNR 06949
Inhalt Rosa Oberhauser geb. Giel berichtet: Es war am Karsamstag, 31. März 1945, in Traiskirchen. Die Front war schon nahe und wir hörten den Kanonendonner der Russen. Kinder, Frauen und ältere Leute wurden evakuiert und mit Bussen weggebracht. Meine Mutter sagte, sie gehe nicht mit dem Transport mit, wir gehen auf eigene Faust. Unser Papa war ein pflichtbewußter Mensch. Er war schwer herzleidend und im Krankenstand und hätte mit uns mitgehen dürfen. Er war im Semperitwerk an leitender Stelle. Semperit war ein Rüstungsbetrieb und er brauchte deshalb nicht einrücken. Er sagte: "Ich kann meine Kameraden nicht im Stich lassen, ich bleibe da," und meldete sich zum Volkssturm. Er organisierte uns in der Firma einen Handwagen mit Gummiradln. Nachher nahmen wir halt das Notwendigste sowie die Dokumente und das Fotoalbum mit, das ist unwieder- bringlich. Ich war damals 21 Jahre, meine Mama 45 und mein Bruder Egon war 13 Jahre, die Großeltern waren mit und eine Schwägerin, die bei uns im Hause wohnte und ein Cousin. Die andere Schwägerin, die auch im Hause wohnte, ist nicht mitgekommen. "Ich kann mein Zeug nicht im Stich lassen, " sagte sie, "wenn mein Mann zurückkommt ist niemand daheim!" Nachmittag sind wir zu Fuß losgezogen und haben den Wagen mitgezogen, das war eine Plage. Die Schwägerin führten wir zeitweise auf dem Wagerl, weil sie einen wehen Fuß hatte. So sind wir bis Gafort gekommen, wo wir in einem Hause übernachteten. Zuagangen is' in der Nacht. Wir hörten gegen Wienerneustadt die Fliegerabwehr und sahen den Feuerschein und hörten schießen. Über Stock und Stein sind wir am nächsten Tag weitergezogen. Auf den Straßen konnten wir nicht sein, dort verstopften Ungarn und Volksdeutsche mit Roß und Wagen die Straße total. Das kann sich kein Mensch vorstellen. Wir waren in dem Wirbel drinnen. Ungarische Flüchtlinge hatten ihre Wagen voll Lebenmittel und gaben uns manchmal zu Essen. Sie haben uns auch den Wagen anhängen gelassen. Die Leute haben dort vielmehr zusammengeholfen, obwohl keiner viel hatte. Dann ist wieder deutsches Militär in der Gegenrichtung auf dem Weg gewesen, denn die mußten wieder an die Front, die schon nahe war. Die Organisation TOD hat uns ein Stück mitgenommen. Samt dem Wagen haben sie uns auf einen Lastwagen aufgeladen und gesagt, wir brauchen keine Angst zu haben, sie würden nicht an die Front kommen. So kamen wir in ein Seiten- tal. Auf einem Holzplatz machten wir ein Lager und übernachteten auf dem Lastwagen und im Führerhaus. Meine Mutter hatte immer so eine Vorahnung und so sagte sie am nächsten Tag: "Heute gehen wir weiter!" Obwohl uns andere zuredeten, zu bleiben, gingen wir weiter. Als wir wieder auf die Straße kamen, trafen wir unseren Vater, der mit dem Volkssturm auf dem Weg war. Er erhielt eine Woche Urlaub und konnte mit uns ziehen. Wir sind nun wieder weiter auf aufgeweichten, dreckigen Straßen, eine Nacht waren wir in Lilienfeld. Im Kloster konnten wir schlafen. Über Kilg und Mang kamen wir in dieser Woche bis Asten, dann mußte unser Papa wieder zurück. Wir redeten ihm so zu, er solle bei uns bleiben. Er sagte aber, er getraue sich das nicht zu tun. Er möchte sich nicht im letzten Moment erschießen oder auf- hängen lassen. Er ging zu seinen Leuten. Meine Mama sagte: "Den Papa sehen wir nicht mehr." Wir sind dann weiter in Richtung Mauthausen nach St. Georgen. Da sahen wir wie ausgemergelte Gestalten nach Mauthausen getrieben wurden. Wenn sie nicht mehr weiter konnten, wurden sie einfach erschlagen oder erschossen und im Straßengraben liegen gelassen. Ein Mensch ist in dieser Zeit gar nichts gewesen. Wir wollten in St. Georgen Bekannte besuchen und wenn es möglich gewesen wäre, dort bleiben. Wir trafen die Bekannten, aber bleiben konnten wir nicht. Eine Nacht konnten wir bei ihnen schlafen und etwas zum Essen bekamen wir. So mußten wir wieder weiterziehen Richtung Salzburg. Einmal schliefen wir in einem Vierkannthof im Heu, ein andermal wollte uns eine Bäuerin in der Nähe von Vöcklabruck in ihren Hof aufnehmen, weil wir ihr so gut gefielen. Sie ging extra zum Bürgermeister, um uns anzumelden. Der aber sagte, der Bezirk Baden müsse nach Tirol. Das war das einzige Mal, daß wir wieder in einem Bett schlafen und uns richtig waschen konnten. In Vöcklabruck war ein großes Auffanglager. Dort konnte man sich melden, wenn man jemanden suchte. An den Bäumen waren Zettel, auf denen aufgeschrieben war: wir gehen dorthin oder dahin, damit man sich wieder findet. Es war ja alles ein Chaos. Der Cousin und die Tante waren nicht mehr bei uns. Ich weiß nicht mehr, ob sie ihren Mann gesucht hat. In Salzburg waren wir jedenfalls allein. Salzburg hat fürchterlich ausge- sehen. Ich kann mich noch erinnern, daß uns ein Mann geholfen hat, den Wagen zu ziehen, lauter Bombenkrater und Trichter bergauf und bergab. Am Bahnhof waren wir in einem total zerbombten Hotel in einer von Flüchtlingen überfüllten Halle, während die Mama beim Wagen blieb. Egon und ich schliefen auf gepolsterten Bänken im Lift. So blieben wir eine Nacht, hatten aber am nächsten Tag keine Aussicht mit den Zügen mitzukommen. Es war alles überfüllt. In der zweiten Nacht war Fliegeralarm. Da sagte die Mama: "In Salzburg können wir auch nicht bleiben, wir müssen weiter." Noch in der Nacht sind wir aus Salzburg heraus. In einem Vorort stand ein Bus. Der Bus- chauffeur ließ uns in seinen Bus hinein. "Ihr könnt in der Nacht hier schlafen," sagte er, "am Morgen um 5 Uhr komme ich wieder, da müßt ihr wieder weiter". In der Früh sind wir wieder weiter. In Schneizelreuth er- innere ich mich heute noch an ein altes, großes Wirtshaus neben der Kirche. Da haben wir etwas zu essen gekriegt. Dann sind wir wieder weiter, immer weiter bis wir in St. Johann ankamen. Da hätten wir bleiben können, in einem Massenquartier in der Schule. Meine Mutter sagte: Ins Massenquartier gehe ich nicht, daß wir noch Flöhe, Läuse und Wanzen bekommen und daß sie uns das Bißchen, das wir mitgenommen haben, auch noch wegnehmen. Wir gehen weiter." Außerhalb von St.Johann haben wir eine Nacht in einem Bauernhaus geschlafen. Beim Reischerwirt in Going haben wir "Pressknödel" bekommen. Beim Marcher- bauern konnten wir im Stadel übernachten. Bleiben aber konnten wir nicht. So kamen wir nach Ellmau. Auf dem Gemeindeamt wimmelte uns die Sekretärin ab, Ellmau wäre schon voll belegt und könne niemand mehr aufnehmen. So sind wir mit unserem Wagen unter einem Birnbaum beim Krämer Magazin gestanden. Unsere Mama ging zum Steinbacher, um sich um Brot anzustellen. Wir waren klein verzagt und weinten. Vier Wochen waren wir nun schon auf dem Weg und wir wußten immer noch nicht wohin. Da kamen zwei so Weiberleute daher und fragten uns, wo wir herkämen. Sie seien aus Schlesien und seien schon im Jänner hierher gekommen. Deshalb war Ellmau auch so voll. Wir erzählten ihnen, daß wir schon so lange auf dem Weg sind und einfach keine Bleibe finden. "Geht zum Ortsgruppenleiter, das ist ein guter Mensch, der schickt niemand weg," sagten sie, "der wohnt da unten". So sind wir da hinunter. In der Holza haben wir unseren Wagen mit dem Egon zurückgelassen und wir sind Hundsbichl hinaufgegangen. Recheis Lois war damals Ortsgruppenleiter. Der war aber nicht daheim. Seine Frau sagte, er würde erst nachmittags kommen. Es blieb uns nichts anderes übrig als zu warten. Am Holzacher Bachl kochten wir uns inzwischen Kartoffeln. Um ca 4 Uhr kam Recheis nach Hause und wir gingen zu ihm und brachten unser Anliegen vor. "Ja,ja," sagte er, "zwei Plätze habe ich noch. Entweder ihr müßt auf Kaiserern oder auf Lechen. Ich selber habe auch voll, aber heute könnt ihr bei mir in der Stube schlafen. Morgen werde ich schauen, wo ihr unterkommen könnt." Am nächsten Tag sagte er uns, wir können Unterkaiserern hinauf. So plagten wir uns mit unserem Wagen auf dem schlechten, steilen Weg über Rieplern hinauf zum Kaiserer. Bei unserer Ankunft schlug der Bauer die Hände über den Kopf zu- sammen und sagte: "wie kommt ihr nur mit diesem Wagen hier herauf." Nun haben wir so ein Kammerl bekommen zwischen Stall und Stube mit einem kleinen Fensterl, das Wasser ist von den Wänden geronnen, geschlafen haben wir auf Stroh auf dem Boden. Später besorgte uns Recheis Barrasbetten. So haben wir armseelig gehaust. Egon half auf dem Feld, auch meine Mama half bei den Kindern und ich ging auf die Stör. Wir bemühten uns, möglichst wenig zur Last zu fallen. Da das Kammerl so kalt und klein war, mußten wir uns häufig in der Stube aufhalten und die Mutter kochte auch manchmal in der Küche für uns. Am heiligen Abend eröffnete uns der Bauer, er könne uns nicht mehr haben, er brauche die Stube für die Kinder. So saßen wir am Heiligen Abend in unserem Kammerl. Am nächsten Tag fragten wir den Lechenbauern, ob er Platz für uns hätte. "Ihr könnt schon kommen," war die Antwort. So übersiedelten wir am Stephanstag nach Lechen. Dort haben wir endlich ein menschenwürdiges Bleiben gehabt. Egon machte wieder "Knechtl" und die Mama half im Hause. So über- standen wir die letzten Kriegstage. Da bei uns zu Hause alles "zscharri" war, wollte unsere Mama in Tirol blei- ben. Wir hatten Aussicht, daß wir Riesen zu pachten bekommen. Wo sich unser Papa aufhielt, wußten wir nicht. Der Vater einer Freundin fand ihn in Traiskirchen bei einem Bauern. Er hatte in den letzten Kriegstagen die Ruhr bekommen und war stark abgemagert. Schwarz über die Demarkationslinie an der Enns zu gehen, wagte er nicht und mußte so warten,bis er die Bewilligung bekam, nach Tirol zu reisen. Es war gar nicht leicht, eine Fahrkarte zu erhalten, da die Züge überfüllt waren. Zufällig bekam er eine Karte von einer Frau, die nicht fahren konnte. Die Freude war groß und er schickte ein Telegramm, daß er komme, er wisse aber noch nicht, wann er ankommen werde. In dem überfüllten, heißen Zug wurde ihm schlecht und am Bahnhof in St. Johann erlag er einem Herzinfarkt. "Eine große Feude ist genau so schlecht, wie großes Leid," sagte der Arzt Dr. Angerer. Thomas Aigner, bei dem ich auf der Stör war, überbrachte mir die traurige Nachricht. Ich wollte es anfangs nicht glauben, zu sehr hatten wir uns auf das Wiedersehen gefreut. Wir holten unseren toten Papa mit einem Lieferwagen vom Bahnhof in St. Johann ab und brachten ihn nach Ellmau. Nach Papas Tod übersiedelten wir Koglern. Dort hatten wir ein Zimmer, aber mit der Kocherei war es so eine Sache. In der Küche waren wir nicht gern gesehen und in der Stube hatten wir einen Kachelofen, der geraucht hat wie der Teufel, da dauerte es lange, bis etwas kochte. Die Koglermutter war eine seelengute Frau. Obwohl sie selber kaum zu Essen hatten, verschenkte sie Butter mit dem Bemerken: "Sagen sie nur Vergelt's Gott, dann bin ich schon zufrieden". Für 1 Kg Butter verlangten andere 30 Schilling. Ich war viel auf der Stör. Barasstoffe und Fallschirmseide mußte ich zu Kleidern, Hemden und Blusen verarbeiten. Ich wunderte mich, wo sie diese Stoffe herbekommen haben. Wahrscheinlich eingetauscht. Viel half uns in dieser Zeit die Frau Vötter. Im November 1947 habe ich geheiratet. Egon bekam beim Recheis einen Lehr- platz als Tischler und übersiedelte mit meiner Mutter nach Hundsbichl.
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Sachgebiete [Kriege, Lebensbilder]